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Der Werwolf (I)

Wer kennt ihn nicht? Eine vermeintlich unscheinbare Person, die sich im Angesicht des Vollmonds in eine reißende Bestie verwandelt und über all jene herfällt, die ihren Weg kreuzen. Neben Vampiren und Zombies gehört der Werwolf zweifellos zu den am häufigsten rezipierten Wesenheiten des klassischen Horrors, ist aber inzwischen auch aus zahllosen Fantasy-Settings nicht mehr wegzudenken. 

Doch warum ist das überhaupt so? In unserem ersten Teil zum Werwolf begeben wir uns auf einen knappen Streifzug durch die Geschichte, um die Genese dieser sagenumwobenen Kreatur zu ergründen.

Frühe schriftliche Überlieferungen

Grundlegend für das Wesen eines Werwolfs ist die Verwandlung eines Menschen in einen Wolf (oder eine wolfsähnliche Kreatur). Diese besondere Form des Gestaltenwandelns wird gemeinhin als Lykanthropie bezeichnet. Namensvetter ist hierfür der in der griechischen Mythologie zu verortende König der Arkadier und Sohn des Pelasgos: Lykaon.

Wenngleich seit seiner frühesten verschriftlichten Bezugnahme durch Hesiod (8./7. Jh. v. Chr.) die Sage im Verlauf der Antike verschiedene Ausformulierungen erfahren hat, wird Lykaon vornehmlich als ruchloser, frevelhafter und mörderischer König oder Gastgeber beschrieben, der dem Göttervater Zeus heimlich Menschenfleisch aufzutischen gedenkt. Als Strafe wird der Sünder daraufhin in ein Tier verwandelt, das mitunter seinem Wesen entspricht: Er wird zu einem Wolf.

In diesem Sinne wird der Wolf schon früh mit einschlägig negativen Wesenszügen wie Verschlagenheit, Mordlust und Wildheit assoziiert – allesamt Eigenschaften, zu denen der Mensch zwar fähig ist, diese aber nicht als erstrebenswert erachten sollte. Außerdem wird die Lykanthropie als Resultat übernatürlichen bzw. göttlichen Wirken dargestellt, dem sich der Mensch nicht erwehren kann.

Auszug aus Ovids Metamorphosen zum Schicksal Lykaons (Buch I: 1,216–239)
[Der Göttervater Zeus berichtet vor der Götterversammlung von seinem Besuch bei Lykaon in Arkadien zur Aburteilung des Menschengeschlechts:]

Durch das Versteck der Wildtiere, den gefürchteten Mainalos [Berg in Arkadien], zog ich über den Kyllene und durch die Fichten des kalten Lykaios. Sodann trete ich in das ungastliche Haus des wilden arkadischen Herrschers [Lykaon], da der Abend bereits mit der Dämmerung anbrach.

Ich gab Zeichen, dass ein Gott gekommen sei, und das Volk begann zu beten. Zuerst verspottete Lykaon die frommen Gebete [seines Volkes], danach sprach er: „Ob dieser [Gast] ein Gott oder doch nur ein Sterblicher ist, will ich mit klaren Mitteln erproben, und die Wahrheit wird nicht anzuzweifeln sein.“ Meuchlerisch trachtete er danach, mich Erhabenen [Zeus] bei Nacht im Schlummer zu ermorden. Dies gefällt ihm als Probe zur Wahrheit.

Damit dann aber doch nicht zufrieden durchschnitt er [lieber] einer der Geiseln, die ihm das Volk der Molosser gesandt hatte, mit der Klinge die Kehle. Danach weichte er die noch warmen Glieder teils in siedendem Wasser auf, teils briet er sie über darunter angezündetem Feuer.

Wie er sie nun auftischt, stürze ich mit rächender Flamme das Haus auf den Herrn und seine gleichermaßen strafbaren Penaten [häusliche Schutzgötter] nieder. Er selbst entflieht erschrocken. Und nachdem er die ländliche Stille [feranab des eingestürzten Hauses] erreicht hat, heult er laut auf und versucht vergebens zu sprechen. Sein Gesicht zieht sich zu einer tollwütigen Fratze zusammen, und mit gewöhnlicher Mordgier bricht er in die [Vieh-] Herden ein, um sich auch jetzt noch an ihrem Blute zu laben.

Seine Kleidung verwandelt sich zu Zottelfell, die Arme werden zu Beinen. Zwar ist er nun ein Wolf, doch bewahrt er noch Überbleibsel seiner vorherigen Gestalt: Noch immer ist es dasselbe Haargrau und derselbe Trotz in seinen Zügen. Ebenso funkelt sein Blick, dasselbe Abbild der Wildheit.

Frei gestalte Übersetzung durch den Autor.

Entgegen der Sage um Lykaon wurde dem Wolf als eines der größten rezenten Raubtiere Europas seiner Zeit aber auch viel Ehrfurcht entgegengebracht. Insbesondere naturnah lebende Völker wie die Skythen, Kelten und Germanen verehrten den Wolf aufgrund seiner Kraft, seiner Ausdauer und seines Geschicks als Jäger. Allesamt Eigenschaften, die in einem Kampf von Vorteil sein mochten. Ebenso schmückten sich römische Legionäre genauso mit Wolfspelzen wie die späteren Wikinger als Wolfskrieger. 

Doch mit der zunehmenden Christianisierung sollte sich das Bild des Wolfs alsbald drastisch ändern.

Mit dem Teufel im Bunde

Der Bischof Burchard von Worms (950/965-1025 n. Chr.) ist der Erste, der in seinen als Codex Iuris Canonici bekannten Gesetzestexten zum katholischen Kirchenrecht den Begriff „Werwolf“ führt. Dort eifert er gegen den offenbar weit verbreiteten Volksglauben, dass vermeintliche Schicksalsgöttinnen einem Menschen die Macht in die Wiege legen könnten, „einen Wolf zu rufen, und wann immer er will, sich durch allgemeine Torheit in einen Werwolf zu verwandeln“.

Der namhafte, katholische Theologe Thomas von Aquin (1225-1274) sah im Werwolf hingegen ein dämonisch erzeugtes Scheinwesen, welches mit Satan im Bunde stand. Die tatsächliche Verwandlung eines Menschen in einen Wolf hielt er in Anbetracht der göttlichen Naturgesetze allerdings für unvereinbar. Dementsprechend handelte es sich bei einem Werwolf bzw. einem Wolfsmenschen um eine gotteslästerliche Kreatur ähnlich den Hexen und anderem Gezücht.

Furcht und Aberglaube während der Hexenverfolgung

Vor allem im 15. und 16. Jh. wurde insbesondere in Europa oftmals Hexerei für die Lykanthropie verantwortlich gemacht und als besondere Form der Teufelsbesessenheit angesehen.

Dem Volksmund nach konnte man sich in einen Werwolf verwandeln, indem man beispielsweise einen (verfluchten) Gürtel aus Wolfsfell – meist als ein Geschenk Satans – anlegte oder sich in Vollmondnächten an Wolfskraut schneide. Auch könnte man der Lykanthropie anheimfallen, wenn man besudeltes Wasser trinke, dass sich in Werwolfsspuren angesammelt hat oder von dem vor kurzen ein Werwolf getrunken hatte. Die Möglichkeiten waren vielfältig. Es hieß sogar, dass der Werwolf in Menschengestalt sein Fell innen tragen konnte, um unerkannt zu bleiben.

Hervorzuheben ist jedoch, dass der Werwolf laut Malleus maleficarum (Speyer 1486, Erstauflage), einer Art Legitimationsschrift zur Hexenverfolgung, ähnlich den Ansichten Aquins weder ein echtes Tier und noch ein verwandelter Mensch sei, sondern ein durch den Teufel erschaffenes Trugbild darstelle. So wurden im Zuge der Hexenverfolgung verschiedentlich auch Männer vor Gericht gebracht, der Verwandlung in einen Werwolf bezichtigt und in der Konsequenz hingerichtet.

Stubbe-Peter: Mörder, Vergewaltiger und Werwolf

Der wohl bekannteste der etwa 250 nachweislich geführten Werwolf-Prozesse fand nach einer Reihe von Verfahren im Herzogtum Burgund schließlich 1589 in Bedburg bei Köln statt: Der Bauer Peter Stump, auch Stübbe- oder Stubbe-Peter genannt, beging nach Auffassung der damaligen Justiz in einem Zeitraum von etwa 25 Jahren in Epprath und Bedburg im Rheinland in der Gestalt eines Werwolfs mindestens 16 Morde, mindestens zwei Vergewaltigungen und Inzest. Zudem wurden ihm Zauberei und das Zusammenleben mit einer Teufelin angelastet. Im Sinne der Anklage wurde er zusammen mit seiner Tochter und seiner Geliebten wenige Tage später durch Rädern und Enthauptung hingerichtet. Sein Leichnam wurde im Anschluss verbrannt.

Der Fall stieß auf derart große Resonanz, dass selbst in den Niederlanden, in Dänemark und in England Flugblätter erschienen, die teilweise mit Abdrucken aufwendiger Holzschnitte geschmückt waren, in denen die tatsächlichen oder angeblichen Gräueltaten Stumps in allen Einzelheiten geschildert wurden.

Tatsächlich traten Werwolf-Prozesse meist dann in Gegenden auf, die unter einem erhöhten Aufkommen an Wölfen litten, z. B. die Franche-Comté und der französische Jura, der Hunsrück, der Westerwald und das Nassauer Gebiet. Offenbar brauchte es für ihre glaubhafte Inszenierung immer zu beklagende Opfer und im Idealfall sogar vermeintliche Zeugen, waren sie doch gemeinhin ein probates Mittel, um (politisch) unliebsame Mitmenschen nachhaltig aus der Gesellschaft zu entfernen.

Fakt ist jedoch, dass die zu dieser Zeit vergleichsweise stark anwachsende Bevölkerung mit der zunehmenden Erschließung landwirtschaftlicher Nutzflächen immer weiter in den Lebensraum des Wolfes eindrang, dessen Rückzugsmöglichkeiten im Umkehrschluss sukzessiv abnahmen. In Ermangelung der üblichen Beutetiere bejagte der Wolf notgedrungen das Vieh der verarmten Bauern und drohte wiederum, sie ihrer Existenzgrundlage zu berauben.

Daher ist es kaum verwunderlich, dass sich die diesem Tier entgegen gebrachte Furcht von der Obrigkeit als entmenschlichte Ausgeburt Satans leicht instrumentalisieren ließ. Der letzte dokumentierte Werwolf-Prozess fand 1720 statt. Etwa deckungsgleich war der Wolf in den deutschen Landen um 1750 weitestgehend ausgerottet.

Der Gnadenschuss mit der Silberkugel

Während anderenorts der Wolf bereits gänzlich von der Bildfläche verschwunden war, ereignete sich in der südfranzösischen Region Gévaudan (etwa heutiges Département Lozère) eine vermeintliche Mordserie bisher kaum gekannten Ausmaßes: In den Jahren 1764 bis 1767 soll in dem dünn besiedelten Gebiet eine heimtückische Bestie etwa 100 Menschen, vornehmlich Frauen, Kinder und Jugendliche, gerissen und teils ausgeweidet haben. Im Verdacht stand zunächst ein menschenfressender Wolf, die sogenannte Bestie von Gévaudan.

Da die Mordserie trotz umfangreicher Bejagung und Tötung von Hunderten von Wölfen nicht abriss, kamen Gerüchte auf, dass es sich bei der Kreatur um keinen gewöhnlichen Wolf handeln konnte. Die Rede war von einem Werwolf, der sogar Musketengeschossen widerstanden haben soll. Letztlich, so heißt es zumindest, wurde 1767 ein besonders großer Wolf mit einer Silberkugel niedergestreckt. Die Mordserie endete daraufhin zwar nicht aprubt, ebbte aber in der Folgezeit allmählich ab.

Moderne Untersuchungen an zeitgenössischen Musketen ergaben jedoch, dass ihre damalige Zielgenauigkeit und Durchschlagskraft im Falle der Wolfsjagd weit überschätzt wurde, sodass ihre Wirkung an robusten Pelztieren selten den erwarteten Schaden erzielte. Erwartungsgemäß etablierte sich das Gerücht, dass besagter Kreatur mit normalen Waffen nicht beizukommen sei. Technisch gesehen ist es sogar unwahrscheinlich, dass ein Wolf mit einer Silberkugel, die vom Material her deutlich weicher war als gewöhnliche Geschossmunition, erlegt wurde.

Mit der sukzessiven Dezimierung des Wolfs in Zentraleuropa nahmen folglich auch die Angriffe auf Menschen ab. Die allgegenwärtige Furcht vor diesem vermeintlichen Untier und seinen dämonischen Derivaten verblasste allmählich. Doch waren es Wissenschaft und Kunst, die sich in der Folgezeit dem Bann des Werwolfs nicht zu entziegen vermochte. Erfahrt dazu mehr in unserem zweiten Teil zum Werwolf.

Das Titelbild stammt von Yuri_B auf Pixabay.

1 Kommentar zu „Der Werwolf (I)“

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