LiteraturSonstiges

Geh nicht in den Winterwald

Erinnert ihr euch noch an früher, als ihr nachts nicht einschlafen konntet, weil ihr euch heimlich Schauergeschichten erzählt habt? Schon der Gedanke an jene verbotenen Scheunen, nebelverhangenen Friedhöfe und finsteren Wäldern ließ euch den Atem stocken.

Mit dem bereits 2017 erschienen Erzählspielbuch Geh nicht in den Winterwald möchte der System Matters Verlag abermals eure gruseligsten Kindheitseindrücke wieder erwecken und eure Mitspieler*innen daran teilhaben lassen.

Rollenverteilung und Kälte-Marker

Um eure Schauergeschichte ins heimische Wohnzimmer zu holen, mimt einer von euch den Erzähler bzw. Spielleiterin. Entweder lasst ihr euch vom Spielbuch für eigene Abenteuer inspirieren oder bedient euch eines der beiliegenden Szenarios. Alle anderen schlüpfen jeweils in die Rolle eines Protagonisten. Zur Auskleidung der einzelnen Rollen bedarf es lediglich dreier fiktiver Dinge: einen Namen, eine Berufung und eine Motivation, in den Winterwald zu gehen. Letztres kann beispielsweise eine Mutprobe, eine wichtige Beschaffung oder ein verheißungsvoller Traum sein. Wer weiß das schon…

Sobald die Spielercharaktere – also die Protagonisten eurer Erzählung – den ominösen Winterwald betreten, erhält jeder von ihnen einen ersten Kälte-Marker. Für jeden Schrecken und jede Verletzung, die es mit Fortlauf der Handlung zu erdulden gilt, erhalten sie weitere Marker. Sobald das Limit von sechs Marken erreicht ist, scheidet die jeweilige Figur auf die eine oder andere Weise aus. Ihr kennt zweifelsohne schon genug Filme oder Bücher, um zu wissen, wie ein solcher Abgang im Detail aussehen kann.

Jetzt braucht ihr neben euren Notizen nur noch einen sechsseitigen Würfel (W6). Immer dann, wenn ihr von euren Spielerinnen eine Fertigkeitsprobe verlangt – ihr sie also fragt, ob ihre Suche, ihr Sprung oder ihr Kampfmanöver erfolgreich war – würfeln sie den Sechsseiter. Für einen Erfolg müssen sie „nur“ die aktuelle Anzahl ihrer jeweiligen Kälte-Marker überwürfeln. Was am Anfang noch ein Leichtes ist, entpuppt sich mit zunehmendem Gruselfaktor als immer schwieriger.

Erzählt wird übrigens in der Vergangenheitsform. Und dann kann es auch schon losgehen:

Am Rande der Wildnis

Irgendwo in Amerika in einer Zeit des Glaubens und des Aberglaubens lag euer abseitiges Dorf am Rande des finsteren Winterwaldes. Schon die Indianer warnten eure Vorväter, dass es die Sagen und Legenden jenes Waldes nicht ohne Grund zu fürchten gilt. Doch trotz der harten Arbeit oder gerade wegen der frommen Kirchendienste war das Leben gut zu euresgleichen, bis der Winterwald seinen Tribut einforderte:

Rupert war der Lehrling des hiesigen Schusters und Stiefelmeisters. Da er sich schon ganz gut mit dem Ledereihandwerk auskannte, begleitete er den welterfahrenen Jäger John. Zusammen mit dem Eselsführer Walter und drei anderen Jungspunten reisten sie zu dem weit im Norden hausenden Einsiedler. Hier wollten sie die auf dem Lastentier mitgeführten Waren gegen neue Biberpelze eintauschen.

Am frühen Abend erreichten sie schließlich die jenseits des East Creek Rivers am Rande des Winterwalds gelegene Hütte. Es schien jedoch niemand zu Hause zu sein. Die Kleintierfallen moderten im nebenstehenden Verschlag wohl schon seit geraumer Zeit vor sich hin. Daher beschloss die Gruppe, im letzten Licht des Tages nach jenem Einsiedler zu suchen. Unten am See war es dann Rupert, der als Erster im mächtigen Biberdamm verdächtige Knochen erspähte. Bald darauf fanden Riley und Gregory eine ganze Grube voller menschlicher Überreste, derer sich die zahlreichen Biber beim Bau des Damms bedienten. Bizarr waren die vielen Kerben an den blanken Gebeinen, erinnerten sie doch Pete an das fette Vieh seines Vaters, nachdem man es zur Schlachtbank geführt hatte.

Mit Einbruch der Dunkelheit kehrte die Gruppe zur Hütte zurück. Während sich Walter unerhörterweise an den alten Konservendosen des Einsiedlers vergriff, durchblätterte Riley sein fein säuberlich geführtes Tauschregister. Offenbar hatte der Einsiedler beabsichtigt, noch vor Einbruch des Winters zu den weiter ostwärts siedelnden Indianern zu ziehen. Ihm hing den Aufzeichnungen nach „der Konservenfraß zum Hals heraus“.

Derweil blätterte John in einem alten Ledereinband, den der alte Kauz wohl schon im Sommer ertauscht hatte. Wenngleich er kein Wort zu lesen verstand, verstörten ihn die von grausam zugerichteten  Menschen handelnden Bilder so sehr, dass er keinen Happen des von Walter angerichteten Bohneneintopfs herunterbekam. Zudem verwehrte er den Burschen jeglichen Einblick in besagten Einband. Während des Essens beschloss die Gruppe, am nächsten Morgen zum Indianerdorf zu ziehen, wollte sich doch niemand dem Spott des Dorfes preisgeben, mit leeren Händen zurückgekehrt zu sein.

So brachen die sechs mit den ersten Sonnenstrahlen auf und folgten dem am Bibersee vorbeiführenden Pfad gen Osten. Rupert pfiff zuversichtlich in den Morgen. Noch hatte niemand bemerkt, dass sein Rucksack inzwischen um einen geheimnisvollen Ledereinband schwerer war, dessen Inhalt er noch nicht kannte.

Nach einigen Stunden des Wanderns stießen sie auf eine Art Schutzkreis: Quer über dem Pfad lag eine sorgfältig aufgereihte Kieselsteinspur, die offenbar in großem Bogen durch den Wald führte. Zudem hingen in den Bäumen allerlei Traumfänger. Folglich musste das Indianerdorf nicht mehr weit sein.

Auf Ruperts Karte ist der Weg verzeichnet, auf dem die arme Seele immer tiefer in den Wald hineinläuft…

Kurze Zeit später merkte einer nach dem anderen das versehentliche Knacken und Rascheln im Unterholz. Zweifelsohne wurden sie verfolgt. Walter fühlte sich von scheibar misstrauischen Indianern sichtlich herausgefordert, hatte ihre bunte Truppe doch nichts Böses im Sinn. So löste er sich von den anderen, um den oder die Verfolger ihrerseits aufzuspüren. Leider nahm sein Vorhaben eine ungeahnte Wendung: Urplötzlich hallte der greller Aufschrei Walters durch den Winterwald, der wenig später atemlos aus den Büschen stürzte. Riley erschrak fürchterlich, sodass sich ein Schuss aus seinem mit zittriger Hand geführten Revolver löste. Walter ging getroffen zu Boden. Eine üble Wunde klaffte nun in seinem Bauch. Während Gregory und John die Wunde notdürftig versorgten, betreute Pete geistesgegenwärtig den Unfallschützen. Rupert starrte verängstigt in den Wald. Was hatte bei Walter wohl ein derartiges Entsetzen ausgelöst?

Doch eines war allen klar: Walter brauchte dringend einen gescheiten Arzt, sonst würde er die Nacht womöglich nicht überstehen. So hievten sie ihn mit aller Mühe auf den Esel und folgten dem Trampelpfad zügigen Schrittes zum Indianerlager. Zu ihrer Verwunderung war auch dieses schon seit geraumer Zeit verlassen. Sichtlich in Sorge um Walters Befinden bereiteten Riley und Pete ein großes Feuer für die Nacht vor. Gregory durchsuchte die umliegenden Zeltreste, während sich Rupert und John etwas weitläufiger umsahen. Etwa im Zentrum der verlassenen Ansiedlung fanden die beiden eine rituelle Brandbestattung mit Überresten einer vierköpfigen Familie. Es war wieder die Neugier Ruperts, die Bizarres zum Vorschein brachte: Offenbar hatte man den Toten tönerne Herzen in Brustnähe beigelegt, die eine eigenartige Kälte ausstrahlten. Was für ein indianischer Zauber mochte das wohl sein?

Als die Nacht hereinbrach, schürte die Gruppe das Lagerfeuer, wussten sie doch, dass sie hier draußen keineswegs allein waren. John ertappte sich immer wieder dabei, wie er seine Kameraden mit einem unergründlich gottlosen Hunger anstarrte. Bisher vermochte er sich zusammenzureißen, doch das Verlangen wuchs mit jeder verstrichenen Sekunde. Währenddessen versank Riley in Schuldgefühlen, war es doch um den fiebrigen Walter nicht sonderlich gut bestellt. Rupert dachte über das verbotene Buch in seinem Rucksack nach, waren ihm Johns durchdringende Blicke unlängst aufgefallen. Gregory ließ hingegen Johns Gewehr für keinen Moment aus den Augen. Beklemmendes Unbehagen machte sich breit. Dieser Umstand war es vermutlich auch, der Pete dazu bewog, sich etwas von der Gruppe abzusetzen, um in einem wieder hergerichteten Zelt wenigstens etwas Ruhe zu finden. Ein fataler Fehler, wie sich alsbald zeigen würde…

Kurz vor Mitternacht brach jemand oder gar etwas aus der umliegenden Schwärze hervor, riss mit seinen Klauen jenes Zelt in zwei und ergriff den zappelnden Pete. Die anderen schreckten durch sein Geschrei auf und erschraken fürchterlich. Offenbar hatte sich eine ausgedörrte Kreatur mit langer weißer Mähne, etwa an die 3 m groß und entfernt an einen Humanoiden erinnernd, den Eigenbrödler geschnappt. Gregor ergriff kurzerhand Johns Gewehr und schoss. Verfehlt! Riley zog seinen Revolver und schoss. Wieder verfehlt! Rupert ergriff einen noch glimmendes Ast aus dem Feuer, doch es war schon zu spät. Die Kreatur stürzte davon und riss den armen Pete mit sich. Später vernahmen sie seine klagenden Laute in nicht allzu weiter Ferne. Er lebte noch. Was sollten sie also tun?

John und Riley entschlossen sich, dem Angreifer nachzusetzen, während Rupert und Gregory bei Walter blieben, der inzwischen in seinem ganz eigenen Fieberwahn versank. Und so dauerte es nicht lange, bis die beiden Zurückgebliebenen an Walters Seite neben Petes Gejammer auch kurzzeitig den kehligen Aufschrei Rileys und das verstörende Geheul Johns vernahmen. Man hätte sich wohl nicht trennen sollen. Doch kampflos mochten sich die beiden übrigen Burschen nicht ihrem Schicksal ergeben: Gregory lud das Gewehr nach, Rupert legte seinen gespitzten Wanderstock in die verbleibende Glut. Sie waren auf das vorbereitet, was da auch immer kommen mochte.

Es schien eine Unendlichkeit vorüberzuziehen, bis jene Kreatur realisierte, dass man die Feuerstelle nicht verlassen werde, um den klagenden Lockrufen Petes unbedacht in die Finsternis zu folgen. Und so erschien sie abermals im Schein der Feuerstelle und entblößte ein groteskes Abbild einer einst menschlichen Gestalt, deren lästerlicher Antlitz keineswegs auf das Werk des Christengottes zurückzuführen war.

Gregory und Rupert tauschten sich vielsagende Blicke aus: Gregor schoss und verfehlte abermals. Während letzterer nachlud, griff Rupert mit dem glühenden Holz an. Vergebens! Zu beider Überraschung stürmte die Kreatur an Rupert vorbei. Kannte sie etwa die verheerende Wirkung von Bleikugeln? Fassungslos musste Letzterer mit ansehen, wie sein schieß freudiger Kamerad in Stücke gerissen wurde. Schlagartig wurde ihm klar: Die Indianer hatten sich mit dem vermeintlichen Bannkreis keineswegs vor einem Eindringling schützen wollen. Vielmehr hatten sie mit ihm ein ihnen wohlbekanntes Übel eingesperrt. Rupert zögerte keinen Moment zu lange und warf seinen schweren Rucksack (samt Ledereinband) ins Feuer, das kurz aufloderte. Dann rannte er los. Doch das Glück war ihm nicht hold…

Wenige Tage später kehrte der Esel ins Dorf zurück. Seine Bewohner strömten erwartungsvoll herbei, fanden aber nur ein durch die lange Reise geschundenes Tier mit blutverschmiertem Rückenfell vor. Keine Spur von den prächtigen Burschen und dem erfahrenen Jägersmann, die ihn begleiten sollten. Und so kam es, dass man fortan seinen Kindern das Folgende einbläute: „Geh nicht in den Winterwald!“

Auflösung
Der Einsiedler ertauschte noch vor Wintereinbruch des vergangenen Jahres das ominöse Buch, dessen Anblick in ihm den unsäglichen Hunger nach Menschenfleisch weckte. Gutgläubige Reisende und unvorsichtige Indianer überwältigte er, fraß sie und verscharrte ihre blanken Überreste in der Knochengrube am Bibersee. Mit Einbruch des Winters blieben die Reisenden aus. Und so zog es den durch Menschenfleisch entseelten Wendigo mit ausgekühltem Herzen ins Indianerdorf. Die Indianer erkannten das Übel, verbrannten die von der Wendigo-Psychose betroffene Familie und versiegelten das Zeltlager mit indianischem Zauber, den die verbleibende Kreatur nicht zu verlassen vermochte.

Fazit

Geh nicht in den Winterwald vom System Matters Verlag ist ein gleichermaßen regelarmes wie großartiges Erzählspiel, das auf die Stärken des Genres setzt und flexibel den eigenen Vorstellungen angepasst werden kann.

Allerdings setzt es auch voraus, dass der Spielleitung ein gewisses Geschick für atmosphärisches Erzählen hat und sich die Spielenden trotz der Risiken für ihre Charaktere auf die vor ihnen liegende Geschichte einlassen. Im Gegenzug werden eingefleischte Strategen, Spielzugoptimierer, Regelfuchser und anderweitig diskussionsfreudiges Personal am Winterwald eher wenig Gefallen finden.

Insgesamt stellt das hier präsentierte Abenteuer (ca. 3h), welches eine Eigenkreation ist, für mich ein tolles Erlebnis dar. An dieser Stelle möchte ich mich nochmals bei meiner Gruppe für das tolle Erlebnis bedanken. Ich freue mich schon auf meine nächste Reise in den Winterwald, wenngleich ich mein Alter Ego Rupert nie wieder sehen werde…

Das Titelbild ist das Buchcover der gleichnamigen Publikation. Alle Bildrechte liegen bei Sytem Matters.

Marco Schugk

beschäftigt sich nicht nur beruflich mit Kulturen und Kulten vergangener Aonen, um ihnen lang vergessene Geheimnisse zu enhtlocken. In seiner Freizeit schickt er vorzugsweise die MitspielerInnen seiner Rollenspielrunden gern zu den  entlegensten Orten dieser und jeder anderen Welt, bis sie mit reicher Beute zurürckkehren oder dem Wahnsinn anheim fallen... Nungut, Beute gab es bisher irgendwie nie...

Ein Gedanke zu „Geh nicht in den Winterwald

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung