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Mysterien der See (Rezension)

Bereits im Herbst 2022 entdeckte ich auf einer Rollenspielmesse jene Anthologie mit dem vielversprechenden Titel Mysterien der See von Vanessa Kaiser und Thomas Karg (Hrsg.), die im Kleinverlag Torsten Low veröffentlicht wurde. Allein das Cover mit seinem grotesk reißerischen Seemonster zog meine Blicke auf sich. In Anbetracht der diesjährigen Vergabe des Vincent-Preises für Horrorliteratur verrate ich euch, ob und wie sie mir gefallen hat.

Der Verlag Torsten Low samt „bissigem Verleger“, wie man ihn so schön nennt, ist mir tatsächlich schon seit längerem gut bekannt. So zieren beispielsweise bereits weitere, eher düster angehauchte Anthologien, Irrlichter und Geister der Vergangenheit, aus selbigem Hause mein heimisches Bücherregal. Daher war ich damals schon sehr gespannt auf das Buch.

Inhaltlich vielfältig

Auch in Mysterien der See versammeln sich erneut zahlreiche deutsche Autoren und Autorinnen, die insgesamt 20 Kurzgeschichten beisteuern. Diese beschäftigen sich hauptsächlich mit Wesen aus dem Meer oder der weiten See selbst. Dabei bedient man sich mitunter einschlägiger Sagen und Legenden, es wird aber auch mit eher ungewöhnlichen Themen experimentiert. Anfangs hatte ich beim Lesen noch die unbegründete Sorge, dass sich die Inhalte hauptsächlich auf gefräßige Meerjungfrauen und Riesenkraken beschränken würden. Rückblickend ist das bediente Spektrum jedoch genauso vielfältig wie die Autorenschaft selbst.

Obwohl sich viele Geschichten klar einer gruseligen, seltener auch cthulhoiden Grundstimmung zuordnen lassen, sind andere dann doch eher anregend bis morbide, verträumt bis schwermütig, brutal bis trashig oder zuweilen sogar fast schon absurd. Auch wenn mich nicht jeder Beitrag vollends abgeholt hat, haben mich folgende Geschichten (Auswahl) doch auf die eine oder andere Weise mitgenommen:

Baychimo (von M. H. Steinmetz)

Im Jahr 1931 heuert ein Seemann auf dem in die Jahre gekommenen Eisbrecher Baychimo an, der abgelegene Häfen im Nordpolarmeer mit Versorgungsgütern beliefert. Eines Morgens muss er nach seiner Nachtruhe feststellen, dass etwas an Bord nicht stimmt: Frost und Staunässe in der Kabine, Notbeleuchtung, und von der restlichen Besatzung keine Spur – absolute Stille. Hat man ihn etwa auf dem im Packeis festgefahrenen Kohledampfer zurückgelassen? Doch während er das Schiff erkundet, wird ihm nach und nach klar, dass niemand das Schiff bisher lebend verlassen hat. Und unter der gefrorenen See um ihn herum scheint ein weitaus grausameres Schicksal als der Tod zu lauern. Schließlich trifft er eine Entscheidung: Überleben um jeden Preis!

Pandora (von V. Voss)

Das erfahrene Tiefseetauchteam um Lilli und Lars entdeckt unerwartet am Grund der Ostsee in einer Tiefe von 28 Metern ein stark beschädigtes deutsches U-Boot aus dem Zweiten Weltkrieg, das eine nicht registrierte Kennung trägt: U 888. Nach einigem Zögern beschließt die fünfköpfige Truppe, ihre potenziell bahnbrechende Entdeckung genauer zu erkunden. Cord, Zoe und Till schlüpfen in ihre Taucheranzüge, um vorsichtig über das von innen aufgebrochene Heck in das metallene Ungetüm einzusteigen. Vom großen Frachtraum aus wagen sie sich durch die Speisekammer, die Kombüse und die Mannschaftsquartiere weiter ins Innere des Schiffes vor, immer die abnehmenden Sauerstoffanzeigen im Auge behaltend. Bei ihrer Erkundung offenbaren sich ihnen nach und nach sogar die Spuren eines längst vergessenen Kampfes an Bord. Gab es hier seiner Zeit eine Meuterei? Viel zu spät müssen sie jedoch feststellen, dass sie dort unten nicht allein sind. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Medusa (von J-Ch. Prüfer)

Der ehemalige Häftling Janis gerät unter Deck einer Bohrinsel in eine heftige Auseinandersetzung mit dem bulligen Kindermann und seinem feigen Handlanger, die einen neuen Kollegen übel schikanieren. Plötzlich erreicht sie von weiter oben ein unerwarteter Tumult, der ihre Neugier weckt. Alle eilen nach draußen auf die Aussichtsplattform. Dort muss Janis entsetzt mitansehen, wie eine gigantische Qualle trotz seines mutigen Einsatzes nicht nur einen seiner Kollegen mit ihren mit Nesseln bewehrten Tentakeln in die Tiefe reißt und verschlingt, sondern ihn auch noch bei lebendigem Leibe allmählich verdaut. Dieses grauenhafte Schauspiel hinterlässt bei Janis tiefe Spuren.

Stilistisch gelungen

Ähnlich ihrer inhaltlichen Vielfalt unterscheiden sich die Kurzgeschichten auch in Herangehensweise, Struktur und Ausdruck stark von einander. So steigt beispielsweise Baychimo mit dem namenlosen Protagonisten direkt und sprichwörtlich unverfroren in die Handlung ein. Im Gegenzug nehmen Pandora und Medusa sich mehr Zeit, um die agierenden Personengruppen ausführlicher darzustellen.

In Baychimo entsteht die Spannung durch die allmähliche Enthüllung des zugrunde liegenden Mysteriums und die Darstellung des inneren Konflikts des emotional aufgewühlten Protagonisten. Pandora erzeugt hingegen Spannung mittels direkter und leicht verständlicher Erkundungstour durch das Schiffswrack, auch wenn diese teilweise vorhersehbar wirkt. Und Medusa baut zunächst kaum Spannung auf, nur um den Lesenden dann am Ende schlichtweg umzuhauen.

Nicht selten wird dabei die den einzelnen Geschichten zugrunde liegende Atmosphäre durch die präzise Wortwahl oder das Lesetempo geprägt. Obwohl beides stilistisch zur jeweiligen Geschichte passen kann, gelingt es nicht in jedem Falle mit Bravour.

Fazit

Die Anthologie Mysterien der See ist eine vielfältige Sammlung von 20 Kurzgeschichten, zusammengestellt von Vanessa Kaiser und Thomas Karg, die hauptsächlich dem Genre der düsteren Phantastik zuzuordnen sind. Die umfangreiche Autorenschaft bedient sich dabei nicht selten bekannter Sagen und Legenden zur Seefahrt, versucht sich aber auch an frischen Themen.

Der Sammelband bietet eine wunderbare Gelegenheit, die Arbeiten der einzelnen, bisher zumeist wenig bekannten Autoren und Autorinnen kennenzulernen. Gleichzeitig wird dabei aber auch klar, dass nicht alle Geschichten den eigenen Geschmack treffen können. Dennoch sollte eigentlich für jeden Gänsehaut-Enthusiasten etwas Passendes dabei sein. Also für mich insgesamt eine gelungene Zusammenstellung an stimmungsvollen Beiträgen!

Im Übrigen gewannen die beiden Herausgeber Vanessa Kaiser und Thomas Karg den Vincent-Preis 2022 für „Beste Anthologie / Bestes Magazin“. Das von Mark Freier gestaltete Cover belegte den ersten Platz in der Kategorie „Beste Horror-Grafik“. Die ebenfalls in Mysterien der See enthaltenen Kurzgeschichten Shearwater Cave von Günther Kienle und Schwere See von Jörg Fuchs Alameda landeten in der Kategorie „Beste Kurzgeschichte“ jeweils auf dem 2. Platz.

Beim Vincent-Preis, benannt nach dem in vielen frühen Horrorfilmen vertretenen Schauspieler Vincent Price  (1911–1993), handelt es sich um eine Art Community-Preis des Forums Phantastik-Literatur. Ausgezeichnet werden jedes Jahr per Abstimmung die besten Werke des Genres „Horror und unheimliche Phantastik“ mit deutschsprachiger Originalausgabe. Verliehen wird der Preis auf der Marburg Con.

Buchtitel: Mysterien der See
Herausgeber: Vanessa Kaiser, Thomas Karg
Verlag: Torsten Low
Buchseiten: 318 Seiten (Softcover)
ISBN: 978-3-96629-026-5

Auf dem Titelbild ist ein Ausschnitt des Buchcovers zu sehen. Für letzteres liegen alle Bildrechte beim Verlag Torsten Low.

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