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R’lyeh – Ein Reiseführer (Rezension)

Der von Jörg Kleudgen herausgegebene Reiseführer erschien im Mai 2019 beim Basilisk-Verlag. Ohne die Autoren oder den Verlag zu kennen, begab ich mich auf ein ungewohntes Leseabenteuer.

R’lyeh – das wusste ich aus meiner bisherigen Auseinandersetzung mit dem Cthulhu-Mythos – war jene titanische Stadt am Grund des pazifischen Ozeans, in der der Große Cthulhu begraben liegt, auf dass er die Zeit überdauert und selbst den Tod besiegt. Aber ein Reiseführer? Vielleicht zu den traumhaftesten Ecken längst vergangener Idylle? Mit schaurigen Übernachtungstipps und nicht-euklidischen Restaurant-Empfehlungen? Ich wusste mir nichts Gescheites vorzustellen.  Und so las ich einfach mal drauf los.

Das von Björn Ian Craig entworfene Cover lässt bereits erahnen, wo die Reise hingeht (Ⓒ Basilisk Verlag)

Der Anfang vom Ende

(1) Butjadingen, Nordsee, Anfang 1940er: Der Kriegsinvalide Hans Henschel, inzwischen Kommissar der hiesigen Polizeistelle, wird vom Dienstmädchen Wiebke Tetens gebeten, dringlichst im alten Herrenhaus des Prof. Ernst Junker nach dem Rechten zu sehen. Als der Kommissar zusammen mit Wachtmeister Boyens und dem Fräulein wenig später den Wohnsitz des Meeresforschers betreten, offenbart sich ihnen das blanke Chaos: durchwühlte Schränke, umgeworfene Messinstrumente, umherfliegende Dokumente. Und keine Spur vom Professor – der Schauplatz eines Verbrechens?

Als daraufhin der Postbote auch noch ein Päckchen vorbeibringt, glaubt Henschel nicht mehr an Zufälle. Neugierig öffnet er es. Enthalten ist neben einem offenbar in Furcht geschriebenen Brief eines gewissen Dr. Alexandre Visiau der Negativabdruck eines grotesken Reliefs mit einer tentakelbewehrten Abscheulichkeit. Widerlich!

Kaum ist das Päckchen offen, fährt eine schwarze Limousine vor. Ihr blasser, glubschäugiger Fahrer nebst Adjutanten gibt sich sofort als Kommissar Von Strössnitz zu erkennen, der sich zuvor telefonisch angekündigt hatte. Dieser nimmt alsbald das Päckchen in Empfang, erklärt den Fall für abgeschlossen und düst in großer Eile wieder ab.

„R’lyeh – 47° 9′ südl. Breite. 126° 4′ westl. Länge“

Handschriftliche Notiz auf der Rückseite des Gipsabgusses.

Der Wahnsinn greift um sich

(2) Als sich Henschel und Boyens noch eine Weile draußen umgesehen haben, rollt ein grauer Kübelwagen heran. Zu seinen Insassen gehört unter Anderem ebenfalls ein gewisser Von Strössnitz. Schnell wird klar, dass die hiesigen Polizeibeamten kurz zuvor getäuscht wurden. Von Strössnitz flitzt zum Auto zurück und gibt Gas. Sein Vorgesetzter, Wolfram Sievers, hat ihn ausdrücklich mit der Wiederbeschaffung des Artefakts betraut. Vielleicht würden sich die beiden Verdächtigen noch einholen lassen.

Die Aufholjagd findet bei dem aufbrausenden Regenwetter alsbald mit einem Unfall ein jähes Ende. Wieder zu sich gekommen zieht es den Verfolger gen Strand. Dort entdeckt er die dunkle Schar bei einer Art Anrufung. Und was sich dann vor seinen Augen aus dem Meer erhebt, raubt ihm auch noch die letzten Sinne…

(3) Usedom, Ostsee, 1970er: Die Journalist Walter Lehmann sucht zusammen mit der Fotografin Carmen das abgelegene Sanatorium in Swinoujscie auf. Wenngleich sie vor Ort mit ihrem Anliegen auf wenig Sympathie treffen, dürfen sie nach einer hartnäckigen Auseinandersetzung mit dem Oberarzt Prof. Dr. Jonas Mau dann doch endlich einen ganz besonderen Insassen befragen: Von Strössnitz

(4) Wieder zurück in Butjadingen, Nordsee, Anfang 1940er: Die Herrschaften der Polizei haben Prof. Junkers Haus längst verlassen. So obliegt es nun Wiebke Tetens, wieder Ordnung ins Chaos zu bringen. Bei ihren Aufräumarbeiten entdeckt sie Junkers Aufzeichnungen zu seiner Südsee-Expedition. Und was sie dort liest, verschlägt ihr den Atem…

Durch Raum und Zeit

Mein Leseabenteuer beginnt mit Kommissar Henschel, wie er während des aufbrausenden Sturms zum alten Herrenhaus auf der Deichkrone eilt, um sich jenem Durcheinander zu widmen. In dieser durch den Herausgeber recht dicht besetzten Szenerie werden schon  allerlei Namen und Hinweise eingestreut. Anfänglich noch etwas verloren und unbedeutend wirkend, wird alsbald klar, dass andere Autoren und Autorinnen derlei Einzelheiten gezielt wieder aufgreifen. So werden nicht nur bestehende Handlungsstränge verschiedentlich fortgesetzt, sondern auch Einzelschicksale zuvor genannter Personen teils bis zu ihrem jähen Ende ergründet. Auf diese Weise erschließt sich mir ällmählich das große Ganze. Verrückt!

Und das ist auch das Wesen einer Round-Robin-Erzählung: Viele kreative Köpfe arbeiten sich abwechselnd an der Geschichte ab, indem sie einander fortführen und einbeziehen. Dabei gelingt es Jörg Kleudgen, die unterschiedlichen Ideen und Herangehensweisen der einzelnen Schreiberlinge so miteinander zu verweben, dass sich eine gleichermaßen interessante wie in sich geschlossene Erzählstruktur etabliert.

Einziger Wermutstropfen ist jedoch der leider durch die Episodenhaftigkeit der einzelnen Autorenbeiträge auf der Strecke bleibende Spannungsbogen und der zumeist ebenfalls fehlende Tiefgang der einzelnen Charaktere. Auch scheint es mir persönlich etwas plump, bei all den ansonsten gelungenen Bemühungen um raumgreifende Subtilität den großen Cthulhu namentlich gleich zu Beginn der Erzählung zu benennen.

Illustrativ begleitet

Lobend erwähnen möchte ich abschließend noch das aufwendig gestaltete Hochglanz-Cover. Es zeigt eine vom tosenden Meer umspülte, turmartige Struktur mit tentakelziösem Design vor einer historischen Seefahrerkarte. Sehr hübsch und definitiv keine Selbstverständlichkeit für eine auf 150 Exemplare limitierte Auflage eines kleinen Verlags.

Zusätzlich säumen weitere, in schwarz-weiß gehaltene Federzeichnungen einzelne Passagen im Inneren des Werks. Ein ausfaltbarer Stadtplan mit eingetragenen Sehenswürdigkeiten liegt glücklicherweise nicht bei.

Fazit

Die Round-Robin-Erzählung R’lyeh – Ein Reiseführer von Jörg Kleudgen und anderen Autoren gleicht einem historisch angehauchten Kompass, der mich auf meiner cthuloiden Reise durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts navigiert. Die einzelnen Passagen sind interessant und abwechslungsreich, lassen aber eine ganzheitlichen Spannungsaufbau missen.

Insgesamt stellt der Reiseführer zu R’lyeh für mich eine angenehme Ergänzung jeder cthuhluresken Büchersammlung dar. Sie richtet sich meines Erachtens vor allem an Kenner des Mythos.

Buchtitel: R’lyeh – Ein Reiseführer
Herausgeber: Kleudgen, Jörg
Verlag: Basilisk-Verlag
Umfang: 156 Seiten + 1 Tontäfelchen
ISBN: 978-3-947816-01-9

Das Titelbild ist das Buchcover der gleichnamigen Publikation. Alle Bildrechte liegen beim Basilisk Verlag.

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